Ein Logopäde berichtet aus seiner Praxis
Tim (KS-Träger), geboren im Februar 2002, kommt seit August 2005 regelmäßig einmal in der Woche in meine logopädische Praxis zur Sprachtherapie.
Anfangs habe ich Tim, als einen schüchternen Jungen kennen gelernt, dessen Sprechverhalten stimmungsabhängig war. Wenn er sich wohl fühlte, sprach er gern und viel, nur konnte ich ihn kaum verstehen. Er ließ Silben und Laute aus und ersetzte alle Strömungslaute (F,S,Sch) durch Plosivlaute (P,T,K) , so hieß z.B.“ Schwester“ bei ihm „Wetter“, „hoch“ gleich „hop“. Sein Wortschatz war sehr begrenzt, Satzbau und Erzählkonstruktion wenig entwickelt. Zudem sprach er sehr nuschelig, auch bedingt durch die fehlenden oberen Frontzähne, die ihm gezogen worden waren, da diese einen Zahnschmelzdefekt hatten.
Da auch andere Kinder im Kindergarten ihn kaum verstehen konnten und Tim in Gruppen sehr zurückhaltend war, hatte er außer seiner drei Jahre älteren Schwester keine Spielkameraden.
Meine vordringlichste Aufgabe war also, erst einmal die Verständlichkeit seiner Aussprache zu verbessern. Ich begann, die Strömungslaute „F“, „S“ und „Sch“ spielerisch einzuführen und zu etablieren. Wir hatten bald einen guten „Draht“ zueinander und je mehr Vertrauen Tim fasste, umso kreativer wurde er im freien Spiel.
Tim hatte Schwierigkeiten, sich länger auf ein Thema zu konzentrieren, längeres Sitzen am Tisch hielt er nicht aus. Ich habe Tim überwiegend gut gelaunt in den Therapiestunden erlebt, es gab allerdings Tage, an denen man nicht mit ihm arbeiten konnte, da er von seinen kräftigen Launen bestimmt wurde, die er unmissverständlich zum Ausdruck brachte. Außerdem darf es in der Therapie nicht zu sehr nach „Arbeit riechen“, dann machte er nicht mehr mit, und neuerdings sagt er dann selbstbewusst: „Das ist langweilig.“ So besteht die kreative Herausforderung für mich als Therapeuten darin, die Therapieschwerpunkte in Spiele zu integrieren.
Seinen großen Bewegungsdrang konnte er bei mir immer ausleben. Von der Frühförderung wusste ich, dass Tim Körperkontakt nicht gerne zuließ.
Im Laufe der Therapie entwickelte sich ein Spiel: Tim versteckte sich unter einer Decke oder ich musste ihn einwickeln und dann den Bäcker spielen, er war der Brotteig , den ich immer wieder durchkneten, auf die Schulter laden und zum Markt bringen musste. Dabei musste ich ihm jeweils erzählen, was ich als Nächstes mit ihm, dem Brot, machen werde. Dieses Spiel entwickelte sich zu einem Ritual, das er zwei Jahre lang immer wieder einforderte. So holte er sich sein Bedürfnis nach Körperkontakt auf selbstbestimmte Weise. Grobmotorisch war Tim von Anfang an sehr fit, die Probleme lagen eher in der Feinmotorik, wie z.B. das Ballfangen, den Malstift richtig halten, das Ausschneiden mit der Schere.
Mit der Zeit wurde Tims Aussprache immer deutlicher, er benutzte inzwischen alle Laute korrekt, dadurch verstanden ihn die Kindergartenkinder besser und es entwickelten sich Spielkontakte und Freundschaften. Das war der entscheidende Wendepunkt in Tims Entwicklung; die Kontakte forderten ihn heraus, sich sprachlich differenzierter mitzuteilen und gaben ihm einen großen Schub nach vorne, sowohl sprachlich als auch in Bezug auf sein Selbstbewusstsein. Bald wurde seine Sprache deutlich komplexer. Tim verwendet heute auch Nebensatzkonstruktionen mit „wenn“ und „weil“.
Weitere Schwerpunkte der Therapie waren und sind bis heute die Wortschatzerweiterung der expressiven Sprache, d.h. Wörter aktiv zu formulieren und nicht nur zu verstehen. Die Partizipbildung, die er übergeneralisiert wie z.B. „ich bin hingefallt“ , „ich hab einen Vogel geseht“, „Papa ist weggefahrt“ etc. , die Beugung unregelmäßiger Verben, die richtige Verwendung des Genus (der, die, das) , die korrekte Pluralbildung und das Wiedergeben von komplexeren Inhalten und Zusammenhängen, wie z.B. das Nacherzählen von Bildergeschichten.
Im Sommer wird Tim eingeschult. Er bekommt einen Integrationsplatz in einer regulären Grundschule. In dieser Klasse werden 20 Kinder, davon 4 Integrationskinder, von 3 Pädagogen betreut.
Er wird weiterhin begleitende logopädische Therapie bekommen.
Wir sind alle sehr gespannt, wie Tim sich in der Schule entwickeln wird.
Peter Link
Atem-,Stimm- und Sprachlehrer
Milchstr. 22
20148 Hamburg
Tel.: 040-44 85 27